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30-03-2008

Das Europäische Parlament erhält größere Vollmachten und vergrößert seinen Einfluss auf unser Leben

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Am 13. Dezember 2007 haben die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedsländer den Reformvertrag der Europäischen Union unterzeichnet. Dieses wichtige Dokument nennen wir heute den „Vertrag von Lissabon“ nach der portugiesischen Hauptstadt, wo der Reformgipfel stattfand, und er enthält Neuerungen über neue und flexiblere Institutionen für eine gestärkte Handlungsfährigkeit der Union. Wie sich all das auf uns, Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union, konkret auswirken wird, bleibt noch abzuwarten. Mehr noch – alle Mitgliedstaaten müssen den Vertrag ratifizieren, damit er, wie vorgesehen, am 1. Januar 2009 und somit rechtzeitig vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 in Kraft treten kann. Bulgarien hat den Reformvertrag als sechstes EU-Land vor wenigen Tagen ratifiziert.

Der Reformvertrag stärkt auch Demokratie und Grundrechtsschutz durch den Ausbau der Rolle des Europäischen Parlaments, die direkte Einbindung der nationalen Parlamente im europäischen Gesetzgebungsprozess, die Europäische Bürgerinitiative und die Grundrechte-Charta, die durch einen verweisenden Artikel rechtsverbindlich wird. Das Europäische Parlament wird neben dem Rat gleichberechtigter Mitgesetzgeber und gleichberechtigter Teil der Haushaltsbehörde.

Von den Europaabgeordneten, die wir im Juni 2009 wählen werden, wird viel mehr abhängen, als es bis heute der Fall war. Dies ist auf den Reformvertrag zurückzuführen, der die wesentlichen inhaltlichen Fortschritte des Verfassungsvertrags übernimmt, aber auf der Struktur der bestehenden Verträge aufbaut. Dazu sprachen wir mit Prof. Orlin Borissow von der Sofioter Universität „Hl. Kliment von Ochrid“. Er unterrichtet EU-Recht und kennt sich dementsprechend sehr gut aus.

„Der Vertrag von Lissabon sieht die Änderung des Vertrages über die Europäische Union (EU-Vertrag) und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) vor“, erläutert Prof. Borissow. „Der Name des EG-Vertrages wird dabei in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ geändert. Gegenüber dem ursprünglichen Verfassungsvertrag enthält der Reformvertrag eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen, die im Einzelnen im Mandat für die Regierungskonferenz festgelegt wurden. Sie betreffen etwa die Klarstellung der Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, den Zeitpunkt der Einführung der doppelten Mehrheit, die Grundrechte-Charta, den Subsidiaritätskontrollmechanismus, die vereinfachte Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit sowie Fragen des Klimaschutzes und der Energiesolidarität. Durch den Reformvertrag wird die Europäische Union in die Lage versetzt, sich den neuen Herausforderungen und Zukunftsfragen zu stellen“, so der Universitätsprofessor Orlin Borissow.

In einem Telefon-Interview baten wir den Präsidenten des Europaparlaments Hans-Gert Pöttering um einen Kommentar zum Reformvertrag.

Herr Pöttering, die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon ist angelaufen – Bulgarien hat ihn gerade als sechstes EU-Land ratifiziert. Lassen Sie uns einen Blick nach vorn werfen – wie sehen Sie das Europaparlament nach dem Inkrafttreten des Reformvertrages, hoffentlich am 1. Januar 2009?

"Zunächst einmal möchte ich dem bulgarischen Parlament gratulieren, dass es mit einer so großen Mehrheit den Vertrag ratifiziert hat und damit zeigt, dass Bulgarien eine sehr positive Haltung zur europäischen Einigung hat. Für das Europäische Parlament ist dieser Reformvertrag ein großer Schritt nach vorne, weil nämlich das Parlament in nahezu allen Bereichen europäischer Gesetzgebung jetzt gleichberechtigt ist mit dem Ministerrat. Wenn ich eine persönliche Bemerkung anfügen darf – das europäische Parlament wurde 1979 zum ersten Mal gewählt und seit 1979 bin ich ununterbrochen, wie fünf andere Kollegen, im Europaparlament. 1979 hatten wir keinerlei Gesetzgebungsbefugnisse. Und wenn wir jetzt mit dem Reformvertrag in nahezu allen Bereichen, also fast zu 100 Prozent, in der Gesetzgebung mitentscheiden, dann ist das eine grandiosen, eine sehr positive Entwicklung."

Das bedeutet ja, dass der Reformvertrag der Europäischen Union mehr Demokratie, mehr Parlamentarismus und mehr Handlungsfähigkeit ermöglicht. Das wünschen wir uns ja alle. Wie drückt sich das konkret aus?

"Das drückt sich konkret so aus, dass, wenn es beispielsweise um Fragen der Sicherheit geht, die die Menschen besonders berühren, wenn es um die Fragen der Immigration geht, wenn es um Asyl geht, dann sind dieses alles Fragen, bei denen das Europaparlament heute entscheidend mitwirkt und wir sind direkt gewählt von den Menschen und haben den direkten Kontakt zu den Menschen, so dass wir auch immer hören, was die Menschen ganz konkret bewegt und wir können dieses in unsere Arbeit einbeziehen. Das bedeutet, wie Sie es ganz richtig bemerkt haben in Ihrer einleitenden Bemerkung, das bedeutet mehr Parlamentarismus, es bedeutet mehr Demokratie."

Die EU-Bürgerinnen und Bürger, d.h. auch wir, Bulgaren, fragen uns natürlich, wie wir die Politik des Europäischen Parlaments beeinflussen können. Dazu wieder der Juraprofessor Orlin Borissow:

„Dazu haben wir mehrere Möglichkeiten“, sagt er. „Die erste ist natürlich durch die direkte Wahl der Europaabgeordneten. Bulgarien ist in 18 Wahlkreise geteilt und schickt 18 Abgeordnete ins Europaparlament. Das Europäische Parlament ist die Stimme der Bürger in der Europäischen Union. Die zweite Möglichkeit, die wir bekommen, verdanken wir dem Reformvertrag. Dank der Bürgerinitiative werden eine Million Bürger aus verschiedenen Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, die Kommission aufzufordern, neue politische Vorschläge zu unterbreiten. So etwas gab es bisher nicht“, sagt Orlin Borissow, der EU-Recht an der Sofioter Universität unterrichtet.

Das Europaparlament wird in nahezu allen Bereichen europäischer Gesetzgebung mit dem Ministerrat gleichberechtigt sein, was ein sehr großer Schritt nach vorn ist. Die Kompetenzen des direkt gewählten Europäischen Parlaments in Bezug auf die Rechtsprechung, den Haushalt und internationale Übereinkommen werden erweitert. Durch die Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens bei der Beschlussfassung wird zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat bei einem erheblichen Teil der EU-Rechtsvorschriften Gleichberechtigung bestehen. Wie werden sich diese neue Vollmachten auf die Arbeit des Europaparlaments auswirken? Diese Frage richten wir an Enrique Baron Crespo, ehemaliger Parlamentspräsident und heutiger Europaabgeordnete aus Spanien:

"Die Bereiche, in denen wir als Europaabgeordneten gesetzgeberische Befugnisse gemeinsam mit dem Ministerrat haben werden, erweitern sich von 35 auf 85", erklärt Enrique Baron Crespo. "Das bedeutet eine deutliche Erweiterung der Vollmachten. Der Kommissionspräsident wird nach dem Reformvertrag durch das Europäische Parlament gewählt und dadurch demokratisch legitimiert. Das Europäische Parlament wird mehr Kontrolle auf die Tätigkeit der Kommission ausüben, was sie demokratischer macht", ist Baron Crespo überzeugt.

Der Vertrag von Lissabon hat natürlich auch seine Gegner. Dazu gehört mit Sicherheit auch Franck Biancheri, Präsident der Bürgervereinigung Newropeans. Mit seiner Bewegung setzt er sich derzeit für die Demokratisierung der EU ein. Die Newropeans sollen erstmals als Partei bei der Europawahl 2009 in allen Mitgliedsstaaten antreten. Sie verstehen sich als die einzige transnationale politische Bewegung, die angesichts der fehlenden politischen Führung der EU für deren Demokratisierung eintritt. Warum ist er gegen den Reformvertrag in seiner jetzigen Fassung?

"Der Vertrag von Lissabon ist nicht in der Lage, das Hauptproblem der Europäischen Union zu lösen", behauptet Franck Biancheri. "Das Hauptproblem der Union ist das geringe Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Europapolitikern. Mehr noch – durch den Beschluss, den Reformvertrag durch die nationalen Parlamente aller Mitgliedsländer ratifizieren zu lassen, raubte man den EU-Bürgern die Möglichkeit, ihre Meinung in einem Referendum zu äußern. So fassen es die Menschen auf und diese Entscheidung wird das Misstrauen gegenüber der europäischen Institutionen nur noch vertiefen. Daher glauben wir, dass nur europaweite politische Bewegungen, die eine eigene Vision über die Zukunft der Union haben, das Vertrauen im Europaparlament wieder gewinnen können. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um linke oder konservative Ideen handelt, ob sie aus Bulgarien, Spanien oder Frankreich kommen. Das Problem heute liegt darin, dass der Blick der Politiker auf das eigene Land gerichtet ist", führt Biancheri weiter aus. "Bei der Europawahl findet keine Wahl für ein europäisches Parlament statt, sondern 27 nationale Wahlen gleichzeitig. Die Folge ist, dass die Menschen das Vertrauen im Europaparlament verlieren, die Europawahl sie an nationale Wahlen erinnert und sie erst gar nicht zu den Urnen gehen. Mehr noch – im Wahlkampf wird über alles andere gesprochen, nur nicht über Europa", ärgert sich der Präsident der Newropeans Franck Biancheri.

Bekanntlich liegt die Wahlbeteiligung sowohl in den neuen, als auch in alten Mitgliedsländern deutlich unter 50 Prozent. Das bedeutet, dass sich die Menschen für die Politik des Europäischen Parlaments nicht interessieren. Wie kann man sie wieder begeistern, wie kann das Vertrauen der EU-Bürger wieder gewonnen werden? Die Frage geht an Enrique Baron Crespo:

"Nicht alle sind an Politik interessiert, daran kann man nichts ändern", sagt Baron Crespo. "Schaut man sich die Umfrageergebnisse an, so genießt das Europaparlament das höchste Vertrauen in allen 27 Mitgliedsländern. Wir müssen jedoch bedenken, dass wir eine neue Welt schaffen. Für uns ist es am wichtigsten, die Lösung jener Probleme zu finden, die die Menschen am meisten bewegen – Wirtschaft, Alltag, Soziales usw. Und noch etwas – wir müssen den Menschen erläutern, was wir im Europäischen Parlament tun, um diese Probleme zu lösen, zu welchen Maßnahmen wir greifen", fordert Enrique Baron Crespo.

Mit den richtigen Entscheidungen wird das Europäische Parlament das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder gewinnen, meinte er weiter, und vergleicht das Europaparlament mit einem gläsernen Haus: "Unsere Tätigkeit ist transparent, aber wir müssen unsere Öffentlichkeitsarbeit erweitern. Das gilt übrigens auch für die politischen Parteien und die Medien", so Enrique Baron Crespo.

Was meint dazu der Gegner des Reformvertrages Franck Biancheri?

"Wenn Sie alle fünf Jahre ins Kino gehen und immer wieder einen langweiligen Film ohne Spannung, ohne Sex und ohne Spezialeffekte sehen, dann werden Sie über kurz oder lang entscheiden, nicht mehr ins Kino zu gehen, weil Sie diesen Film nicht mögen, oder“, fragt rhetorisch Biancheri, und fährt fort: "Bei den Europawahlen geht es heutzutage nicht viel anders zu. Es findet keine Diskussion statt, keine Debatten und kein Meinungsaustausch über die Zukunft des vereinten Europa statt. Transeuropäische Parteien würden eine europäische Politik führen und Antworten auf solche Fragen bieten, wie z.B., ob sich Europa an die USA stärker anlehnen sollte oder nicht, wie es sich gegenüber Russland verhalten sollte und welche Maßnahmen es greifen sollte, um gegen den Klimawandel anzukommen. Das sind Themen, die alle EU-Bürger interessieren und eine solche Debatte würde die Menschen zu den Urnen bringen", ist Franck Biancheri von den Newropeans überzeugt.

Zurück in Bulgarien müssen wir bekennen, dass die Menschen relativ wenig über die Struktur und die Funktion der europäischen Institutionen aufgeklärt sind. Wie soll dies aufgeholt werden? Dazu wieder der Juraprofessor Orlin Borissow:

"Es ist schlicht und einfach an der Zeit, dass in Bulgarien spezialisierte Radio- und Fernsehsendungen die Arbeitsweise der Europäischen Union verständlich machen", fordert Prof. Borissow. "Es ist aber auch an der Zeit, dass der Reformvertrag aus der unzugänglichen juristischen Sprache in die zugängliche und jedermann verständliche Sprache übersetzt wird, weil er schließlich alle EU-Bürger betrifft", sagt Prof. Borissow.

Nun stehen wir so zu sagen fast schon vor den nächsten Europawahlen 2009. Die Wahlbeteiligung insbesondere in den neuen Mitgliedsländern ist nicht gerade sehr hoch. Was würde der Präsident des Europaparlaments Hans-Gert Pöttering den europäischen Bürgerinnen und Bürgern sagen, warum sie nächstes Jahr wählen gehen sollten?

"Die Wahlbeteiligung ist bei Europawahlen in der Tat nicht sehr hoch. Das ist bedauerlicherweise bei anderen Wahlen auch so, auch bei nationalen oder kommunalen Wahlen. Was die Europawahlen angeht, so müssen wir dazu beitragen, den Menschen immer deutlicher zu machen, dass das EP heute machtvoll ist und viel Einfluss hat. Und deswegen lohnt es sich, das Parlament mit seinen Abgeordneten zu wählen. Und das können die Abgeordneten nun nicht selbst bewirken, sondern wir brauchen die Unterstützung der Medien, von Radio, und Fernsehen und Zeitungen, und unser Interview ist hoffentlich ein Mittel dazu, das EP den Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Fall in Bulgarien näher zu bringen.

Wir hoffen, mit der heutigen Sendung zu einer besseren Verständigung des Reformvertrages beigetragen zu haben. Ihre Meinungen und Fragen können Sie jederzeit an uns schicken – per Post, Telefon oder E-Mail. Nähere Einzelheiten erfahren Sie aus der Webseite http://parliament.europe.bg

Die Sendereihe wird von Radio Bulgarien, RFI - Rumänien und Yvelines Radio - Frankreich ausgestrahlt. Die Sender sind Medien-Partner des Projekts "Heute - Zusammenarbeit mit dem Europaparlament", das vom Europäischen Institut, den Zentrum zur Modernisierung der Politik und dem Portal EUROPA ausgeführt wird.

Autorinnen: Vessela Vladkova, Elena Karkalanowa, Weneta Nikolowa

Übersetzung: Vessela Vladkova


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