Die Stimme der nationalen Parlamente - hört man sie auch in Brüssel?
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Es kommt Ihnen sicherlich auch bekannt vor – sobald die Politiker eine schwere nationale Entscheidung zu treffen haben, rechtfertigen sie sich meistens mit den Worten: "So ist Brüssels Wille". Im Europaparlament wird der Spieß dann umgedreht – oft werden europäische Entscheidungen nicht vorwärts gebracht, weil sich die nationalen Parlamente dagegen streuben. Wo verläuft die dünne Grenze zwischen Europas Hauptstadt Brüssel und den 27 Hauptstädten der Mitgliedsländer?
Das ist das Thema unseres heutigen Beitrags aus der Reihe "Heute – Zusammenarbeit mit dem Europaparlament".
Durch den Vertrag von Lissabon wird das Europäische Parlament neben dem Europäischen Rat gleichberechtigter Mitgesetzgeber, was seine Bedeutung im Vergleich zum jetzigen Rechtsrahmen in der EU wesentlich anhebt. Der EU-Reformvertrag stärkt die Demokratie und den Grundrechtsschutz durch den Ausbau der Rolle des Europäischen Parlaments, aber auch durch die direkte Einbindung der nationalen Parlamente im europäischen Gesetzgebungsprozess. Mit dem Vertrag von Lissabon werden die Rechte der nationalen Parlamente deutlich gestärkt. Die Parlamente der 27 Mitgliedsländer erhalten die Möglichkeit, zur Frage der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im laufenden Gesetzgebungsverfahren Stellung zu nehmen.
Worum geht es aber beim Subsidiaritätsprinzip? Eine Erläuterung dazu von Prof. Julia Sachariewa, die EU-Recht an der Sofioter Kliment-von-Ochrid-Universität unterrichtet:
"Die Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten ist Bestandteil des Gründungsvertrages", sagt Prof. Sachariewa einleitend. "Zur Kompetenz ausschließlich der EU-Gremien gehören vier Bereiche – Zollunion, gemeinsame Handels- und Währungspolitik, Verwaltung der maritimen Ressourcen und Wettbewerb. In diesen vier Tätigkeitsbereichen haben die Mitgliedsstaaten alle Vollmachten der Europäischen Union übertragen und die nationalen Parlamente haben kein Mitentscheidungsrecht. In allen übrigen Tätigkeitsbereichen der EU, die mindestens drei Mal so viel sind, ist die Kompetenz geteilt oder parallel. Daraus resultiert die Frage, wie genau ist die Kompetenzabgrenzung? Sie ist Gegenstand des so genannten Subsidiaritätsprinzips", erläutert Prof. Sachariewa, und weiter: "Die Europäische Union darf nicht wahllos Gesetze erlassen. Sie muss die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachten. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet, dass die EU nur dann handeln darf, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können - so steht es im Vertrag von Lissabon. Der Reformvertrag sieht ferner vor, dass die Gesetzesentwürfe der Europäischen Kommission zunächst an die nationalen Parlamente geleitet werden, die sich binnen acht Wochen dazu äußern müssen. Dies ist eine große Herausforderung nicht nur für die neuen EU-Länder, sondern auch für die alten Mitglieder. Der Kern dieser neuen Regelung ist, dass dadurch die Zeitverschwendung bei fruchtlosen Parlamentsdebatten eingeschränkt, aber auch die Bereitschaft zu Kompromisslösungen gefordert wird. Nur so ist aber die Stimme der Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union zu hören", ist Prof. Julia Sachariewa überzeugt.
Wie bewerten die europäischen Bürgerinnen und Bürger das Europäische Parlament und ihre nationalen Parlamente? Wem vertrauen sie mehr? Welche Tendenzen zeichnen sich ab und besteht darin ein Unterschied zwischen den alten und den neuen Mitgliedsländern? Zu diesen Fragen unterhielten wir uns mit dem Meinungsforscher Iorgos Seferdzis.
"Wir stellen einen Unterschied in der Bewertung und Vertrauen zwischen den einzelnen Mitgliedsländern fest", sagt der griechische Meinungsforscher. "In allen EU-Ländern zeichnet sich jedoch eine allgemeine Tendenz zur Senkung des Vertrauens in allen politischen Institutionen ab, und da machen die Parlamente keine Ausnahme. Diese Tendenz ist für uns ein Zeichen der Krise der politischen Werte, die wir in Europa seit vielen Jahren beobachten. Diese Krise darf jedoch nicht mit einer Abgrenzung von den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie verwechselt werden. Ganz im Gegenteil – die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union verlangen die Stärkung ihrer Repräsentanz auf allen Ebenen der EU", sagt Iorgos Seferdzis, und betont, dass die historischen Unterschiede und Traditionen zwischen den neuen und den alten Mitgliedsländern die verschiedene Haltung gegenüber den politischen Institutionen des vereinten Europa bedingen. "Die neuen Länder der Union knüpfen größere Erwartungen an der Politik und der Demokratie im Allgemeinen, was auf die Liberalisierung der Gesellschaft in den neuen Demokratien zurückzuführen ist. Andererseits suchen die Bürgerinnen und Bürger in den alten Mitgliedsländern eine tiefgreifende Repräsentanz, da dort an der Fähigkeit des politischen Systems gezweifelt wird, mit den Herausforderungen der heutigen Zeit fertig zu werden. Beispiele dafür sind die Globalisierung und die Wirtschaftskrise im Westen", sagt Iorgos Seferdzis.
Die Meinungsumfragen in Bulgarien am Vorabend der EU-Mitgliedschaft haben diese These bestätigt – die Bulgaren hegen bis heute noch ein größeres Vertrauen in die Institutionen der Europäischen Union, als in die nationale Politik. Ein Jahr nach dem EU-Beitritt hat sich diese Tendenz behauptet. Die soziologischen Untersuchungen zeigen nach wie vor eine kontinuierliche Senkung im Vertrauen zur bulgarischen Volksversammlung auf, ganz im Gegensatz zum Europaparlament. Daher die Frage, wer soll das letzte Wort haben – das nationale oder das Europäische Parlament? Hier die Meinungen der Sofioter:
"Das nationale Parlament sollte in der Lage sein, die nationalen Interessen zu schützen. Deshalb werden ja die Abgeordneten gewählt", meint Krassimir Alexandrow. "In den 18 Jahren seit der Wende haben wir jedoch leider die Erfahrung gemacht, dass die Volksvertreter nicht immer das Volk vertreten haben. Dennoch glaube ich, dass die nationalen Parlamente größere Vollmachten haben sollten, das letzte Wort sollte aber das Europaparlament haben. Ich muss gestehen, dass ich mich mit den Befugnissen des Europaparlaments nicht sehr gut auskenne, und deshalb brauchen wir eine großangelegte Informationskampagne", meint Krassimir Alexandrow.
"Meiner Meinung nach sollten die nationalen Parlamente das letzte Wort haben", sagt Maria Stoewa und argumentiert: "Denn die nationalen Parlamente kennen sich mit den landestypischen Gegebenheiten besser aus. Eine neue Bestimmung des EU-Reformvertrages sagt aus, dass ein Drittel der nationalen Parlamente die Kommission zwingen kann, ihre Gesetzentwürfe noch einmal zu überprüfen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Mehrheit der nationalen Parlamente, gemeinsam mit dem Rat oder dem Europäischen Parlament, sogar erreichen, dass Gesetzentwürfe der Kommission überhaupt nicht mehr weiter beraten werden. Das bedeutet für mich, dass Entscheidungen völlig objektiv getroffen werden können. Daher sollte die Kompetenzabgrenzung zwischen den nationalen und dem Europaparlament je nach Problematik definiert werden", meint Maria Stoewa.
"Bei Fragen von nationaler Relevanz sollte der nationale Staat seine eigene Stellungnahme haben und vertreten können", meint Dimo Slawtschew. "Deshalb sollte meiner Ansicht nach das jeweilige nationale Parlament befugt sein, sich bestimmten Beschlüssen des Europäischen Parlaments zu widersetzen. Die bulgarischen Europaabgeordneten sollten auch die bulgarischen Interessen im Europaparlament vertreten", so Dimo Slawtschew.
Über die neuen Aufgaben der nationalen Parlamente nach dem Inkrafttreten des EU-Reformvertrages sprachen wir auch mit dem stellvertretenden Parlamentspräsidenten Filip Dimitrow. Ihm zufolge räumt der Vertrag von Lissabon gewisse Möglichkeiten für die nationalen Parlamente ein, um die weitere Entwicklung der Europäischen Union mitzugestalten. Und weiter führt er aus:
"Das bulgarische, wie auch alle anderen nationalen Parlamente werden in einer sehr frühen Phase der Gesetzentwicklung einwirken können, noch während der Ausarbeitung eines Richtlinienentwurfs der Europäischen Kommission", erläutert Filip Dimitrow. "Alle Entwürfe werden dem bulgarischen Parlament zugesandt, also nicht mehr nur der bulgarischen Regierung. Ferner eröffnet die Subsidiaritätsrüge neue Einwirkungsmöglichkeiten – ein Drittel der nationalen Parlamente kann der EU-Kommission vorschreiben, ihre Richtlinien noch einmal zu prüfen. Sollte die Kommission dennoch auf ihrem Gesetzentwurf bestehen, erhalten wir eine weitere Möglichkeit – dann müsste allerdings mindestens die Hälfte der nationalen Parlamente gegen die Vorschläge der Kommission stimmen. Und noch etwas – wir dürfen die Subsidiaritätsklage nicht vergessen. Die nationalen Parlamente können vor dem Europäischen Gerichtshof wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip klagen", erläutert der stellvertretende bulgarische Parlamentspräsident Filip Dimitrow.
Die Befugnisse des Europäischen Parlaments zu außenpolitischen Angelegenheiten der Union sind momentan im Vergleich zu anderen Tätigkeitsbereichen eingeschränkt. Das soll sich mit dem EU-Reformvertrag ändern. Durch den Vertrag von Lissabon kann Europa in den Beziehungen zu seinen internationalen Partnern eine klare Position einnehmen. Ein neuer Hoher Vertreter für die Europäische Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, gleichzeitig Vizepräsident der Europäischen Kommission, wird den Einfluss der Außenpolitik der EU erhöhen. Ein neuer Europäischer auswärtiger Dienst wird den Hohen Vertreter in seiner Arbeit unterstützen. Die Kompetenzen des direkt gewählten Europäischen Parlaments in Bezug auf die internationalen Übereinkommen werden erweitert.
"Immer mehr Entscheidungen werden vom Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament gemeinsam getroffen", fasst der bulgarische Europaabgeordnete und Mitglied des außenpolitischen Ausschusses Nikolaj Mladenow zusammen. Wie wird jedoch das Gleichgewicht zwischen dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten zu solch brisanten Fragen gewahrt, wie es etwa die Unabhängigkeit des Kosovo war? Dazu Nikolaj Mladenow:
"Vor etwa sieben Monaten hatte sich das Europäische Parlament zum Kosovo geäußert und den Plan Ahtisaari unterstützt", erinnert Mladenow. "In dieser Stellungnahme damals fiel kein einziges Wort darüber, ob die Unabhängigkeit Kosovos unterstützt oder abgelehnt wird, denn es gibt viele verschiedene Meinungen dazu. Andererseits fehlte es im Europaparlament an der Bereitschaft, über dieses Problem ausführlich zu debattieren. Noch während des Konvents, als der Entwurf für die europäische Verfassung ausgearbeitet wurde, haben die EU-Mitgliedsländer ausgiebig darüber diskutiert, wie die nationalen Parlamente an die Arbeit der europäischen Institutionen stärker eingebunden werden können. Der Vertrag von Lissabon regelt es", sagt Nikolaj Mladenow, und führt aus: "Die EU-Kommission erstellt einen Jahresplan über ihre gesetzgeberische Tätigkeit, der auch dem Europaparlament vorgelegt wird. Der Reformvertrag sieht vor, dass dieser Jahresplan nun auch den nationalen Parlamenten zum Kommentar vorgelegt werden muss. Allein diese Absprache bedeutet eine engere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen", behauptet der EVN-Abgeordnete Nikolaj Mladenow.
Eine neue Bestimmung des EU-Reformvertrages stärkt das Mitspracherecht der Bürger: Dank der Bürgerinitiative werden eine Million Bürger aus verschiedenen Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, die Kommission aufzufordern, neue politische Vorschläge zu unterbreiten. Und dennoch bleibt vorerst unklar, wie die Bürgerinnen und Bürger die außenpolitischen Beschlüsse der Europäischen Union kontrollieren können. Dazu wieder Nikolaj Mladenow:
"Ich muss zugeben, dass sich dies momentan noch schwierig gestaltet", sagt Nikolaj Mladenow. "Der Grund ist, dass die Außenpolitik immer noch zu den Kompetenzen der einzelnen Mitgliedsstaaten mit einigen wenigen Ausnahmen gehört. Daher glaube ich, dass die Bürgerinnen und Bürger die eigene Regierung im jeweiligen Mitgliedsland stärker unter die Lupe nehmen sollten. Aber das ist Teil des Problems in der EU, das der Vertrag von Lissabon teilweise lösen wird. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird ausgebaut. Das neue Amt des "Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik" wird den gemeinsamen Auftritt der Union nach außen stärken. Der Hohe Vertreter führt außerdem den Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten und ist gleichzeitig als Vizepräsident der Kommission zuständig für den Bereich Außenbeziehungen. Unterstützt wird er durch den Europäischen Auswärtigen Dienst, der aus Mitarbeitern der Kommission, des Ratssekretariats und entsandten Diplomaten der Mitgliedstaaten bestehen wird. Die Beschlussfassung in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird auch weiterhin im Wesentlichen einstimmig erfolgen. Die EU muss im 21. Jahrhundert als Global Player auftreten, was ohne den nötigen institutionellen Rahmen nicht möglich sein wird", so der Europaabgeordnete Nikolaj Mladenow.
Zum Schluss möchten wir uns bei allen bedanken, die uns zu dieser Sendereihe an info@europe.bg geschrieben haben und auch im Internet auf http://parliament.europe.bg die Sendungen über das Europaparlament verfolgt haben. "Glückwunsch zur neuen Sendereihe und dafür, dass Ihnen Pöttering persönlich gratuliert hat", schrieb uns Ovanes Sarkissian aus Plowdiw. Und weiter: "Ich freue mich jetzt schon auf die nächsten Sendungen zu diesem Thema und hoffe, dass Sie auch auf die Politik der einzelnen europäischen Parteien eingehen werden. Ich möchte wissen, welche Wahlmöglichkeiten ich 2009 haben werde und wissen, welche Partei wie die Zukunft Europas sieht", lesen wir bei Ovanes Sarkissian weiter.
Der 19jährige Wladi Apostolow, der mit seinen Eltern in Paris lebt, fragt nach dem Forum im Internet mit den Europaabgeordneten. "Ich möchte Sie jetzt schon bitten, Ari Vatanen zu einem Online-Interview einzuladen. Ich bin sein Fan! Vatanen ist zwar heute Europaabgeordnete, aber ich verehrte ihn als den erfolgreichsten Autofahrer der Rallye Dakar", schwärmt der junge Wladi Apostolow, und richtet auch schon seine erste Frage an den Europaabgeordneten: "Vatanen sollte mir bitte erklären, warum ich mich nächstes Jahr, wenn ich zum ersten Mal wählen werde, an den Europawahlen beteiligen sollte? Und noch etwas – was zieht einen Sportler in der Politik an?"
Aus Rumänien erreichte uns die Frage von Adriana Chrisan, ob die Gehälter der bulgarischen und rumänischen Europaabgeordneten genau so hoch sind, wie die ihrer Kollegen aus den alten Mitgliedsländern. "Die Internetseite ist sehr interessant. Es ist sehr amüsant, die Sendung auf Griechisch und anschließend auf Englisch zu hören", meint Adriana aus Rumänien.
Schreiben Sie uns weiter, liebe Freunde! Die Email-Adresse ist bekannt: info@europe.bg. Weitere Einzelheiten erfahren Sie auf http://parliament.europe.bg.
Die Reihe "Heute – Partnerschaft mit dem Europaparlament" ist ein gemeinsames Projekt von Radio Bulgarien, RFI Rumänien und Yvelines Radio, Frankreich.
Autorinnen: Eli Gekowa, Elena Karkalanowa, Maja Pelowska, Rumjana Zwetkowa
Übersetzung: Vessela Vladkova