Das "Brüssel-Virus": Lässt die EU Politiker völlig abheben?
Die Entfremdung von Johannes Voggenhuber von seiner eigenen Partei ist kein Einzelfall. Europa verändert, sozialisiert und macht viele EU-Politiker innenpolitisch unverträglich. Jüngstes Beispiel: Sylvia-Yvonne Kaufmann. Ein Beitrag der „Presse".
Es hat schon viele erfasst: Das Virus ist aggressiv, setzt sich direkt im Gehirn fest und hat nachhaltige Folgen. Wer sich in der Europäischen Union engagiert, als Beamter, Interessenvertreter, Journalist oder Politiker, wird die Dinge mit der Zeit anders sehen. Das ist ein Faktum. Genauso wie die Vorwürfe, die jeden Befallenen dann treffen: „Du siehst ja alles nur noch durch die rosa Brille...Du verstehst die Situation daheim nicht mehr... Du bist in Brüssel völlig abgehoben."
Besonders gefährdet sind die alle fünf Jahre neu gewählten Europaabgeordneten. Solche und ähnliche Vorwürfe treffen auch sie. Und das „Brüssel-Virus" macht sie für die nationale Politik, scheint's, mit der Zeit unverträglich. Für viele von ihnen wird deshalb der Weg in die EU zur Einbahnstraße. Irgendwann haben sie sich mit ihrer eigenen Partei, die vorrangig nationale Interessen und innenpolitische Stimmungslagen im Auge hat, auseinandergelebt.
Der von den Grünen demontierte und deshalb persönlich tief getroffene Johannes Voggenhuber ist nur das aktuellste Beispiel solcher Schicksale. Dass er vergangene Woche im „Presse"-Gespräch sogar eine Wahlempfehlung für die Grünen verweigerte, zeigt das tiefe Zerwürfnis mit der eigenen Parteizentrale.
Viele politische Gruppen in der EU haben bereits solche Fälle in den eigenen Reihen. Jüngstes Beispiel in Deutschland ist die ehemalige PDS-Mitgründerin Sylvia-Yvonne Kaufmann, die der Parteiführung unter Oskar Lafontaine zu europafreundlich geworden ist. Sie wechselte diese Woche zur SPD. In Großbritannien wurden die beiden Tory-Politiker Christopher Beazley und Caroline Jackson kürzlich von ihrer Partei demontiert, weil sie den Austritt aus der europafreundlichen EVP-Fraktion als „großen Fehler" und „dumme Politik" bezeichnet hatten. Sie wollten die neue, deutlich EU-kritische Linie von Parteichef David Cameron nicht mittragen.
In Österreich teilen die ehemalige FPÖ-Spitzenkandidatin Daniela Raschhofer und ihr einstiger Kollege Hans Kronberger dieses Schicksal. Nachdem sich beide zu nahe an Europa und zu fern der nationalistischen Linie ihrer Partei bewegt hatten, verschwanden sie von der Bühne. In abgeschwächter Form erleben nun auch die auf den Kandidatenlisten nach hinten gereihten ÖVP- und SPÖ-Kandidaten Othmar Karas und Herbert Bösch derartige Strafsanktionen. Ihnen allen hat das Brüssel-Virus persönlichen Schaden zugefügt.
Die Gründe dieses Phänomens sind freilich vielfältig:
1. Sozialisierung in den EU-Institutionen
Das „Brüssel-Virus" entsteht nicht - wie viele vermuten - über eine Art Kopfwäsche durch EU-Fundamentalisten, sondern durch die spezielle Arbeit in einer internationalen Organisation. Fast jeder Abgeordnete beginnt nach kurzer Zeit, politische Probleme gemeinsam mit Kollegen aus anderen EU-Ländern zu lösen. Das verändert die Sichtweise, reduziert die nationale Orientierung. Die ständige Suche nach Kompromissen prägt die Persönlichkeit ganz anders als in nationalen Parlamenten mit ihren klaren Fronten zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Es sei diese Kompromisspolitik gewesen, die sie verändert habe, gibt die deutsche EU-Abgeordnete Kaufmann offen zu. Ihre Partei daheim hätte hingegen „pure Ideologie über Vernunft" gestellt.
Das Virus wird dadurch verstärkt, dass Abgeordnete selbst aus Kleinparteien im EU-Parlament mehr bewegen können als daheim. Wer beispielsweise Berichterstatter für eine der zahlreichen neuen Richtlinien wird, kann mitgestalten und findet sich bald selbst in der Politik der EU wieder. Reine Nationalisten gehen in diesem institutionalisierten Abtausch unter. Nach dem Motto „Vegetarier sind schlechte Fleischhauer" werden deshalb auch viele von ihnen irgendwann zu glühenden Europäern.
2. Mangelnde Öffentlichkeit
Zur Entfremdung mit der Heimat trägt bei, dass EU-Abgeordnete fünf Jahre lang weitgehend abseits der Öffentlichkeit Politik betreiben. Obwohl sie für rund 70 Prozent aller in ihrer Heimat neu eingeführten Gesetze mitverantwortlich sind, wird über ihre Arbeit - mit Ausnahme von Spesenabrechnungen und dergleichen - kaum berichtet. In Brüssel stehen sie in Konkurrenz zu den angereisten Regierungschefs und Ministern, die ihnen meist die Show stehlen. Daheim werden sie durch die reine Konzentration auf innenpolitische Vorgänge zusätzlich ins Abseits getrieben.
3. Keine Verankerung in der Partei
Den meisten Europaabgeordneten fehlt eine Verankerung in der eigenen Partei. Das beginnt meist schon bei ihrer Auswahl als Kandidat für die Europawahl. Es werden dabei oft altgediente Funktionäre ausgesucht, für die es in der Innenpolitik keine Rolle mehr gibt. Tauchen sie dann in Brüssel unter, verlieren sie völlig den Kontakt zu den eigenen Reihen. „Weil wir ständig hier heraußen arbeiten, können wir auch gegen die Intrigen in den eigenen Reihen wenig unternehmen", gab der grüne Abgeordnete Voggenhuber nach einem seiner vielen Konflikte mit den Parteikollegen in Wien zu bedenken.
Und noch etwas verstärkt das Problem: Obwohl die EU-Institutionen in den vergangenen Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen haben, gibt es nach wie vor in keiner österreichischen Partei eine Koordinationsstelle für die eigenen Abgeordneten in Brüssel. Es gibt keine Europa-Spezialisten, die für eine abgestimmte Linie sorgen. Während sich die Parteiführung einzig um die nationale Politik bemüht, arbeiten die eigenen Europaabgeordneten in einem abgetrennten Vakuum, einer Art politischer Parallelwelt.